M. W. Pernet: Nietzsche und das Fromme Basel

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Titel
Nietzsche und das «Fromme Basel».


Autor(en)
Pernet, Martin W.
Erschienen
Basel 2014: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Noemi Honegger

Nietzsches Verhältnis zum Christentum ist in der Forschung vielfältig und mit unterschiedlichen Resultaten diskutiert worden. Mit dem Buch – Nietzsche und das «Fromme Basel» – wagt sich Martin Pernet auf neue Art und Weise diese Frage heran und zieht dafür zahlreiche Belegstellen aus Nietzsches Werken und Nachlass herbei. Im Zentrum stehen die Stadt Basel im 19. Jahrhundert und Menschen, die er in Basel kennen gelernt hat und die ihn während dieser Zeit und darüber hinaus begleitet haben. Nietzsche verbrachte 10 Jahre seines Lebens in der Stadt am Rheinknie. Als er im Alter von 24 Jahren (1869) auf den Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur in Basel berufen wurde, traf er auf eine Stadt, die zu tiefst vom Geist des Pietismus und der Erweckung geprägt war. Diese christliche Bewegung war ihm nicht fremd, sondern hatte ihn von Kindesbeinen an begleitet. Der Pietismus und die Erweckungsbewegung hatten das Ziel, zu einem echten Bibelglauben zurückzuführen und zeichneten sich durch ihr ausgeprägtes Sünden und Bussbewusstsein aus. Im Zentrum standen der persönliche Christusglauben und die christliche Praxis jenseits von Dogma und kirchlicher Institution. Dabei wurde die aufkommende historisch kritische Forschung deutlich abgelehnt.

Im ersten Teil des Buches legt Pernet den historischen, politischen und religiösen Kontext der Stadt Basel von 1830–1880 dar. In der Person von Christoph MerianBurckhardt erhält das Grossbürgertum des 19. Jahrhunderts ein Gesicht. Dieser war einer der prominentesten Stadtbasler der Zeit. Er vertrat sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht eine klar konservative Haltung, war tief in der pietistischen Frömmigkeit verwurzelt und mit Predigtgrössen wie Ludwig Hofacker bekannt. Christlicher Glaube und aktives Glaubensleben waren ihm eine echte Herzensangelegenheit und er unterstützte Aktivitäten, die zu deren Förderung dienten, grosszügig. Ohne die grosse Spendenbereitschaft von Grossbürgern wie Merian, hätte sich das religiöse Leben in der Rheinstadt nicht in diesem Ausmass entwickeln können.

Weil Basel im 19. Jahrhundert so stark von pietistischer und erwecklicher Frömmigkeit geprägt war, wurde die Stadt auch das «Fromme Basel» genannt. Bereits 1780 wurde die Christentumsgesellschaft gegründet, deren Wirken es zu verdanken ist, dass diese Spiritualität und Frömmigkeitsform in Basel zur Blüte kam. Ihr Erfolg ist untrennbar mit dem Name Christian Friedrich Spittler verbunden. Ebenfalls durch dessen unermüdlichen Einsatz wurde 1815 die Basler Missionsgesellschaft gegründet. Nach dem Vorbild der Herrenhutter Brüdergemeinde wurden Männer aus allen Berufsgattungen aufgenommen und zu Missionaren ausgebildet.

Das «Fromme Basel» war dadurch gekennzeichnet, dass Religion und Politik eng miteinander verflochten waren. Die grossbürgerlichen Familien waren sich ihres Einflusses in beiden gesellschaftlichen Sphären lange Zeit sicher. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang dem religiösen wie auch dem politischen Liberalismus den Durchbruch. 1875 wurde eine liberale Kantonsverfassung nach Vorbild anderer Kantone angenommen und ein Jahr davor eine neue Kirchenordnung verabschiedet, die der evangelischreformierten Landeskirche eine grössere Unabhängigkeit vom Staat garantierte.

Auf diesen religiösen und politischen Kontext stiess Nietzsche, als er im Jahr 1869 in der Rheinstadt ankam. Er hatte zuvor in Bonn und Leipzig studiert und war durch die Vermittlung seines grossen Förderers Friedrich Ritschl nach Basel auf den Lehrstuhl für klassische Philologie berufen worden. Auf wenigen Seiten skizziert Pernet im zweiten Teil des Buches Nietzsches Werdegang bis zu seiner Ankunft in Basel. Hervorzuheben sind, seine vaterlose und von Frauen geprägte Kindheit, seine pietistischer Familienhintergrund und Freundschaftskreis, die pietistische Ausrichtung seiner Religionslehrer, sowie sein auffälliges Talente in Philologie, das ihm die Türen an der Universität Basel öffneten.

In Basel lebte Nietzsche zunächst in einer Hausgemeinschaft mit Heinrich Romundt und Franz Overbeck. Mit letzterem verband ihn über die Basler Zeit hinaus eine enge Freundschaft. Die beiden haben sich gegenseitig in ihrem Denken herausgefordert und geprägt. Später gründete Nietzsche zusammen mit seiner Schwester einen eigenen Haushalt. Die Geschwister hatten einen grossen Freundeskreis und genossen das kulturelle Leben der Stadt. Nietzsche unterhielt gute Kontakte mit der Familie VischerBilfinger. Wilhem Vischer-Bilfinger hatte die Berufung Nietzsches nach Basel veranlasst und bei dessen Ankunft in Basel kümmerte er sich um den jungen Gelehrten. Auch an seinen Arbeitsorten, in der Universität und am Pädagogium, einer Art Vorstufe zur Universität, lernte Nietzsche viele Kollegen kennen und schätzen. Der dritte und umfangreichste Teil des Buches widmet sich daher den Freunden und Bekannten Nietzsches in Basel. Diese werden nicht nur in Bezug auf ihre eigene Biographie und ihre Stellung innerhalb der Stadt dargestellt, sondern ihr religiöses Bekenntnis ist von besonderem Interesse. Es fällt auf, dass Nietzsche den Kontakt zu Theologen mit konservativem und pietistischem Hintergrund gesucht hat und die Auseinandersetzung mit ihnen geschätzt hat. Ein grosser Teil seiner Bekannten aus anderen Fakultäten und von ausserhalb der Uni waren ebenfalls Anhänger pietistischer Strömungen. Obwohl sich Nietzsche nie direkt mit der Tradition des Pietismus auseinandergesetzt hat, ist es angesichts der Kindheit und Jugend Nietzsches und seiner Basler Zeit nicht erstaunlich, dass sich pietistische Einflüsse auf sein Denken ausgewirkt haben.

Im vierten und letzten Teil geht Pernet auf dieses pietistische Vermächtnis ein. Besonders zu berücksichtigen sind Texte aus Nietzsches Schulzeit, die deutlich von pietistischem Gedankengut und Sprachgebrauch geprägt sind. Dazu gehört zum Beispiel der Begriff des Sünderheilands, dessen Schöpfung der Erweckungsbewegung zuzuordnen ist und der sich in den Aufzeichnungen Nietzsches wiederfindet. Des Weiteren hatte Nietzsche eine klare Präferenz für das Johannesevangelium, das auch in pietistischen Kreisen eine Sonderstellung einnahm. In diesem Evangelium das Leben, die ζωή, in vielen Texten zur Sprache gebracht und betont. Die Frage nach dem Leben und nach seinem Wert ist auch in Nietzsches Werk ein wiederkehrendes Thema. Besonders in der Gegenüberstellung des Lebens und der Wissenschaft plädierte Nietzsche für ersteres. Die Wissenschaft sollte um des Lebens willen betrieben werden und sich nicht selbst genügen. In ähnlichem Sinn haben die Pietisten die christliche Praxis, in der die Glaubenswahrheit einzig erfahrbar werde, über das Dogma gestellt. Dieser Gedankengang findet bei Nietzsche in seinem letzten Buch Antichrist, das er als «Vernichtungsschlag gegen das Christenthum» verstanden wissen wollte, seinen Höhepunkt. Indem Nietzsche die Position vertrat, dass sich das Christentum gänzlich gegen den Willen Jesu entwickelt hat, der mit seinem Leben jeglicher Dogmatisierung und Lehre entgegenstand, begründete er in gewisser Weise mit diesem dem Pietismus nahestehenden Gedankengut die Verwerfung des Christentums.

Pernet folgt in allen Teilen seines Buches den Biographien und Lebenswelten einzelner Personen. Originaltexte, in Form von Schriften, Briefen, Erlebnisberichten und Textauszügen, entführen die Leserin und den Leser in die Stadt Basel des 19. Jahrhunderts und schaffen den Raum für eine persönliche Begegnung mit Nietzsche und seinem Umfeld. Auf Grund der Fülle an vorgestellten Personen gerät die engere Forschungsfrage nach dem pietistischen Vermächtnis in Nietzsches Werk zum Teil etwas aus dem Blick. Dafür werden die biographischen Hintergründe aber zu einem weitreichenden Netz verknüpft, das Entwicklungen im religiösen, kulturellen wie auch im politischen Bereich weit über Nietzsche und die Stadt Basel hinaus einzufangen vermag.

Zitierweise:
Noemi Honegger: Rezension zu: Martin W. Pernet, Nietzsche und das «Fromme Basel», Basel, Schwabe, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 441-443.

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